Kulturschock Deutschland
Monday, 6 April 2015Redaktion: Dieser Artikel soll zu Diskussionen und zum Erfahrungsaustausch dienen und gibt nicht die Meinung der Redaktion wider.
Kulturschock Deutschland: Woran Asiaten bei uns verzweifeln
Von FOCUS-Online-Autorin Françoise Hauser
Die wachsende Mittelklasse aus Fernost liebt Deutschland: Sie reist überall hin und fotografiert alles ab. Sie staunt über unfreundliche Bedienungen und leere Innenstädte.
Um es gleich vorweg zu sagen: Deutschland hat im asiatischen Ausland einen guten Ruf. Umso größer ist der Schock für asiatische Besucher, vor allem Chinesen, wenn die gängigen Klischees so gar nicht stimmen wollen. Von der unfreundlichen Verkäuferin bis hin zu leeren Innenstädten lässt Deutschland manch einen Besucher aus Fernost zweifeln: Ist dies das Land der Dichter und Denker? Welche Aspekte besonders an den Nerven sägen, ist dabei nicht nur von persönlichen Vorlieben, sondern auch vom Herkunftsland abhängig.
Schon die Bezeichnung „Asiaten“ treibt manch einem Besucher aus Fernost den Blutdruck nach oben. Wieso schmeißen Europäer eigentlich alle Bewohner des riesigen Kontinents in einen Topf? Das deutsche Argument ,„die sehen schließlich alle gleich aus“, oder die naive Frage ,„könnt Ihr Eure Landsleute eigentlich erkennen?“, kommen bei Chinesen genauso schlecht an wie bei Japanern, Laoten oder Koreanern. Umgekehrt geht es allerdings vielen Asiaten genauso: Auch sie tun sich beim ersten Kontakt mit „Langnasen“ schwer, Menschen zu unterscheiden und wieder zu erkennen – trotz unterschiedlicher Haar- und Augenfarben. Sie sind es gewohnt, auf andere Merkmale zu achten. Die peinlichen Fragen zu diesem Thema verkneifen sie sich allerdings.
In deutschen Gastronomiebetrieben sind asiatische Gäste weniger von dem schockiert, was sich auf den Tellern befindet, als von den Toiletten. Schon der Umstand, dass mancherorts eine beschürzte und mit Schrubber bewaffnete Matrone Geld für das stille Örtchen verlangt, empfinden vor allem Japaner als Unverschämtheit. Aus japanischer Sicht sind die deutschen Toiletten nicht nur schmutziger als ihre japanischen Pendants, sondern auch hoffnungslos veraltet. Immerhin sind japanische Toiletten mit Radio, Bidetfunktionen und sonstigem technischem Schnickschnack ausgestattet. Auch die lange Warteschlange, die sich in großen Betrieben vor dem WC bildet, ist Gästen aus Nippon ein Rätsel und in ihrer Heimat so gut wie unbekannt.
In einem Punkt sind sich asiatische Besucher, egal ob sie nun aus China, Japan oder Korea kommen, einig: nämlich darüber, wie unfreundlich die meisten Menschen hier sind. Café-Bedienungen mit dem Habitus von Gefängniswärtern, ruppige Verkäuferinnen – „Wollen Sie jetzt was kaufen oder nicht?!“ – und ungeduldige Kassiererinnen im Supermarkt lassen den asiatischen Service in völlig neuem Licht erscheinen. Nicht nur in puncto Tonfall. Auch an der hohen Kunst, im Falle einer Meinungsverschiedenheit das Gegenüber das Gesicht wahren zu lassen, scheitern die Deutschen kläglich: Untergebene vor versammelter Mannschaft herunterzuputzen ist für Ost-Asiaten genauso undenkbar, wie die deutsche Eigenart, stundenlang auf den Fehlern anderer herumzureiten.
Leere Straßen, Totenstille, nur ein paar einzelne Passanten hetzen schnell nach Hause, um den Spielfilm nicht zu verpassen: Deutschlands Städte wirken auf Chinesen und Inder wie die Welt nach einem Krieg. Vor allem abends sehnen sich asiatische Besucher danach, mal schnell mit Passanten ein Schwätzchen zu halten, über den Nachtmarkt zu schlendern oder einfach flanieren zu gehen wie in Schanghai oder Bombay – das ist in Deutschland kaum möglich. Treffen sie dann doch auf eine abendliche Menschenansammlung, ist die aufkeimende Hoffnung schnell zerstört: Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine pöbelnde Jugendgang.
Vor allem Thailänder und Philippiner lernen schnell: Gute Laune kommt in Deutschland nicht immer an – vor allem gegenüber Unbekannten in der U-Bahn oder im Supermarkt. Auf ihr strahlendes Lächeln ernten asiatische Gäste böse Blicke und Frauen nicht selten sexistische Kommentare. Von üblen Vorurteilen hierzulande können Asiatinnen ohnehin ein Lied singen: „Wo hast du die denn gekauft?“, muss manch eine geschockte Thailänderin vernehmen, wenn sie mit einem deutschen Begleiter das erste Mal eine Party besucht. Asiatische Frauen gelten pauschal als Katalogware, als leichte, exotische Beute, anschmiegsam und servil. Nicht gerade schmeichelhaft!
Deutschland ist das Land der Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit – das glaubt man zumindest in Fernost. Doch auch in dieser Hinsicht hält die Bundesrepublik allerhand Überraschungen bereit: Randalierende Jugendliche und grölende Fußball-Fans sind vor allem für Japaner ein schockierender Teil der deutschen Realität. Während in Tokyo selbst die Obdachlosen im Ueno-Park ihre Plastiktüten ordentlich aufreihen und vor dem Nickerchen auf der Parkbank die Schuhe ausziehen, scheinen die deutschen Großstädte erstaunlich verwahrlost: Pissoir-Geruch in Parkhäusern, Graffiti-verschmierte Wände, Taschendiebstähle und Pöbeleien lassen Deutschland als höchst zweifelhaftes Pflaster erscheinen.
Genauso wundern sich Gäste aus Fernost über die große Zahl der Obdachlosen – „ist dies denn kein reiches Land?“. Außerdem rütteln auch die öffentlichen Verkehrsmittel ordentlich am Teutonen-Image: Halbstündige Verspätungen und ahnungslose Bahnbegleiter („Kann ich doch nichts dafür, wenn die Bahn verspätet ist!“) geben japanischen Besuchern den Rest.
Zugegeben: Die deutschen Metzger sind in Asien Legende, und manch eine chinesische Touristengruppe tritt ihre Rückreise kollektiv mit eingeschweißtem Eisbein im Handgepäck an. Auch für Wurst in allen Variationen gibt es gute Kritiken. Ansonsten heißt es für das deutsche Essen einhellig „Daumen runter“: fettig, fleischig und lieblos, lautet das Urteil.
Kein Wunder, schließlich werden Mahlzeiten oft im Stehen oder vor dem Fernseher eingenommen. Pure Kalorienaufnahme eben, ohne den Anflug eines sozialen Ereignisses. Während in China, Japan oder Korea Essen eine wahre Kunst ist, jede Zutat auch eine gesundheitliche Wirkung hat, die wohl bedacht sein will, stopft sich der Deutsche alles rein, was ihm vor den Einkaufswagen kommt. Kein Wunder also, dass die meisten Menschen hierzulande zwar alt werden, aber unter tausend Zipperlein leiden.
Vom Kellner bis zum Taxifahrer, Zimmermädchen oder Friseur: Für quasi jede Dienstleistung wird in Deutschland noch ein zusätzlicher, schwer zu bestimmender Obolus fällig. Für Japaner eine echte Stressquelle – wann gibt man und wann nicht? Und wie viel? Sind drei Euro im Taxi großzügig oder knauserig? In Japan sind Trinkgelder nahezu unbekannt: Von einem Taxifahrer wird schlichtweg verlangt, dass er seine Arbeit tut. Außerdem sind Japaner stolz darauf, ihren Job gut zu erledigen. Dafür mit Almosen bedacht zu werden, ist schlichtweg beleidigend. Noch sonderbarer scheint der Trinkgeldzwang, wenn der Service nicht besonders gut war. Völlig verwirrt sind die ausländischen Gäste schließlich, wenn der Kellner einfach das Wechselgeld einbehält und sich so selbst belohnt.
Sich um ausländische Gäste zu kümmern ist in China geradezu eine Frage des guten Tons – auch im geschäftlichen Umfeld. Schließlich sind die Besucher weit gereist und kennen sich vor Ort nicht aus. Geradezu schockierend ist es daher für chinesische Delegationen, mit welcher Nonchalance sie hierzulande in ihrer Freizeit sich selbst überlassen werden: Kein Besichtigungsprogramm, keine Shopping-Tipps, keine Reservierung in der Karaoke-Bar, ja nicht einmal die schlichte Nachfrage, ob denn noch Hilfe gebraucht würde. „Soll ich denn im Hotel versauern?“, fragt sich manch einer und bemüht sich selbst. Die deutsche Ehrfurcht vor der Privatsphäre erscheint dem asiatischen Besucher dabei schnell als „kalt“, sind doch persönliches Bemühen und Gruppensinn die Grundfesten vieler asiatischer Kulturen
Von Indien bis China ist die Verwunderung darüber groß, mit welcher Hingabe sich die Deutschen um Hunde und Katzen kümmern, sie verhätscheln, ja sogar im Bett schlafen lassen – und wie wenig sie von Kindern halten! Asiaten beschleicht hierzulande oft das Gefühl, dass die Deutschen lieber ihre Hunde als ihre Kinder ins Restaurant mitnehmen und das öffentliche Leben völlig nachwuchsfrei stattfindet. Besonders die typisch deutsche „Erziehung zur Selbstständigkeit“ lässt viele Chinesen erschaudern. Wenn die Kinder im Park zum dritten Mal von der Schaukel purzeln oder Sandkasten-Streitigkeiten mit Schaufel und Handgreiflichkeiten ausgetragen werden, fällt es manch einem ausländischen Gast schwer, nicht einzugreifen. In ihren Augen scheint das körperliche Wohl der Kinder in Deutschland nicht an erster Stelle zu stehen.
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